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"Ästhetik des Erhabenen"
   
         
16.04.05 - 12:49:29
   
       
   
         
spectralanalysis series, 6 • Michael Wagner
   
       
   
             
          spectralanalysis_6    



"Le sublime est ... la mode" - das Erhabene ist in Mode. Mit diesem Wort des französischen Kunsttheoretikers Jean-Luc Nancy eröffnet Christine Pries ihr Buch über einen ästhetischen Gegenstand, der nun bald zweitausend Jahre philosophische und künstlerische Gemüter bewegt. -

(Christine Pries Hrsg.: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1988. S. 1)

- Dabei ist das Erhabene kein Thema, das sich gegenüber den Versuchen nach eindeutiger Klassifizierung als besonders gefällig erweist. Es scheint sich der Macht des Begrifflichen entziehen zu wollen und aus jener Grauzone des Erfahrbaren zu stammen, wo auch das Paradoxe und Ambivalente sein Heimrecht hat. Es bezeichnet eine Grenze des Ästhetischen und macht sich doch ästhetisch fühlbar. Dieses Gefühl erweckt Lust und durchkreuzt sie doch zugleich, indem es die Ahnung von etwas Unfaßlichem und Ungeheurem vermittelt. Die idealistische Ästhetik rückte das Erhabene deshalb gerne in die Nähe der Transzendenz, des Absoluten oder Göttlichen. Kant, dessen Reflexionen für die Entwicklungsgeschichte der Kategorie richtungsweisend wurden, bezog das erhabene Gefühl auf die Vernunft, dem Vermögen übersinnlicher Ideen, während der an die Empirie gebundene Verstand auf das Schöne als dem formal Geordneten und sinnlich Faßbaren beschränkt blieb. Der Romantik schließlich war das Erhabene Fingerzeig eines verlorenen Ursprungs, dessen verborgene Anwesenheit in ihm zum Ausdruck gelangte. Die Wiederaufnahme des Begriffs durch das postmoderne Denken ist dagegen durch eine charakteristische Bedeutungsverschiebung geprägt: Nach der Absorption und Neutralisation des Erhabenen durch die tradierten Ästhetiken des Schönen, wird nun das Zwiespältige und Irritierende dieses Gefühls wieder stärker betont. Es ist nicht mehr Signum einer metaphysischen Sehnsucht nach Einheit, sondern spiegelt eher das Orientierungsdefizit unseres postmetaphysischen und postideologischen Zeitalters. In diesem Sinne bezeichnet Jean-François Lyotard besonders die bildnerische Kunst der Moderne als Ausdruck einer Ästhetik des Erhabenen und liefert damit der aktuellen Diskussion entscheidende Impulse. Durch ihn ist das Erhabene zum Modewort geworden. ...

... Das Gemälde oder die Skulptur entzieht sich der genußvollen Absorption und schnellen Einordnung durch den guten Geschmack, denn "es ist noch unbestimmt, es gelingt nicht ad hoc, seine Bestimmung, seine Regel darzustellen, es verweist auf etwas, das sich der Bestimmung entzieht, auf ein Unbestimmtes, Undarstellbares." -

(Ch. Pries: Der Widerstreit, das Erhabene, die Kritik. Einige Überlegungen - eine Annäherung? In: Walter Reese-Schäfer/Bernhard H. F. Taureck Hrsg.: Jean-Francois Lyotard. Cuxhafen 1989. S. 44)

- Das Werk verweigert sich der Konvention und trägt einen Widerstreit aus. Lyotard vergleicht die Stimmung des Rezipienten mit dem Zustand der Uneinigkeit, der sich einstellt, wenn angesichts verschiedener Diskursgenres die Anknüpfung an einen vorhandenen Satz stattfinden soll. Aus der Menge prinzipiell möglicher Sätze tritt auch die Möglichkeit des Schweigens hervor. Es haben sich noch keine Worte gefunden, und der Widerstreit ist das Warten auf dieses Ereignis. Das moderne Kunstwerk ist vornehmlich als ein Ereignis zu verstehen, und das "Unbestimmte geschehen lassen als Fragezeichen" ist seine wesentliche Aufgabe. -

(J.-F. Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde. In: Merkur, Nr. 424, Bd. 38, 1984, S. 152)

- Der Verlust eindeutiger Bestimmtheit, die eine sichere Katalogisierung und damit Neutralisierung des Gegenstandes ermöglichen würde, resultiert aus dem Ende abgrenzbarer Epochen und Stile. Die Anknüpfung an einen "Satz", an ein gegebenes Muster ist nicht mehr vorherbestimmt. Der Künstler befindet sich auf der permanenten Suche nach seiner eigenen Regel, indem er das Überlieferte hinterfragt, dekonstruiert und auf immer andere Weise neu modelliert. Die erhabene Kunst ist eine Kunst des Experiments, sie erprobt die "Umkehrbarkeit des Sehenden und des Gesehenen, des Sprechenden und des Gesprochenen, des Denkenden und des Gedachten". In diesem Sinne einer Umkehrung, einer Vertauschung der Normen, Instanzen und Perspektiven, bezeichnet Lyotard das Experiment moderner Ästhetik als "satirisch". -

(J.-F. Lyotard: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Berlin 1986. S. 68)

- Damit repetiert und kommentiert sie die Umschichtungsprozesse unseres Zeitalters, die eine kulturelle Revolution auf die andere folgen lassen und die traditionellen Entwürfe eines einheitlich geordneten Weltbildes längst zur Makulatur gegeben haben: "Jeglicher Klassizismus scheint verboten in einer Welt, in der die Wirklichkeit in einem Maße destabilisiert ist, daß sie keinen Stoff mehr für Erfahrung gewährt, wohl aber für Erkundung und Experiment." -

(J.-F. Lyotard: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hrsg. von Peter Engelmann. Stuttgart 1990. S. 37)

- Die Künstler reflektieren den Zerfall des Realen, seine Zerrissenheits- und Entfremdungssymptome, wollen aber mit ihren Versuchen selbst eine solche Irritation hervorrufen. Der Versuch, das sich dem Begriff Entziehende darzustellen, gewährleistet dem Werk seine eigene Inkommensurabilität. Diese Kunst zielt nicht mehr auf Identifikation, verkörpert nicht die Ideale eines Gemeinwesens oder gibt Allegorien einer göttlichen Ordnung. Das Werk "beugt sich keinem Vorbild, es versucht darzustellen, daß es ein Nicht-Darstellbares gibt, es ahmt nicht die Natur nach, es ist ein Artefakt, ein Trugbild." -

(Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, a.a.O., S. 160)

- Der Künstler realisiert das Erhabene vor allem durch die radikale Kritik dessen, was in der Überlieferung zu den unverzichtbaren Voraussetzungen bildnerischer Arbeit gerechnet wurde. Mittels Auflösung des Materials, des Gegenstandes, der Formen und Farben, untergräbt er die Konventionen der Wahrnehmung und treibt das Werk gleichsam an die Grenzen zum Immateriellen vor, um in der Demontage der Repräsentation auf das Unrepräsentierbare zu deuten. Die Avantgardisten versuchen "das Undarstellbare nicht als einen verlorenen Ursprung oder Zweck in der Ferne im Sujet des Gemäldes zu repräsentieren, sondern in der Nähe, in den Bedingungen künstlerischer Arbeit selbst." -

(J.-F. Lyotard u. a.: Immaterialität und Postmoderne. Berlin 1985. S. 99)

- Die Ästhetik des Erhabenen konstituiert sich aus einer stärkeren Betonung des reflexiven Moments im künstlerischen Bewußtsein. Auf der Seite des Betrachters wird das sinnliche Wohlgefallen gedämpft und der Blick auf das Fragezeichen in und hinter dem Werk gelenkt. Gegenstand der Reflexion soll das sein, was nicht dargestellt ist: die Unerreichbarkeit des "Es gibt". ...

... Für Kant wie für Lyotard ist das Erhabene ein ästhetischer Grenzbegriff. Es überschreitet die Faßlichkeit der Formen und damit die Gefälligkeit, die ihnen nicht selten anhaftet. Im Gegensatz zum Schönen erschüttert es das Gemüt, es schmerzt und löst Erstaunen aus. Das Ambivalente des Gefühls läßt sich aber offenbar nach verschiedenen Richtungen hin deuten. Verschieden sind daher die weltanschaulichen Vorstellungen, die Intentionen, die man mit ihm verbindet. Hier hat eine Akzentverschiebung stattgefunden, die als Weg vom Metaphysisch-Erhabenen zum Nihilistisch-Erhabenen umschrieben werden kann. Kant sieht im Erhabenen noch einen ästhetischen Verweis auf das Bewußtsein der Transzendenz. Während er das Erhabene einer Ästhetik einverleiben will, die einen Ausgleich von Gemütsvermögen und damit die Identität des Subjekts gewährleisten soll, unterstreicht die postmoderne Version die Berechtigung des Heterogenen. Wird die erhabenen Struktur konsequent im Kunstwerk verwirklicht, erweist es sich als schwierig, die augenscheinliche Zweckwidrigkeit der Form ideell zu kompensieren, und die Radikalität, mit der hier Vielheit geübt wird, verweigert dies sogar ausdrücklich. So bleibt vom Verweis auf die Unbedingtheit der Vernunft nur der Bezug auf ein unbestimmtes Undarstellbares zurück. Lyotard, der das Erhabene kritisch und experimentell verstanden wissen will, deutet diese Unbestimmtheit als Anspielung auf ein unübersehbares, unendlich realisierbares Potential von Möglichkeiten. Da jedoch der Postmoderne die Idee das absolut Negative ist - denn schließlich habe sie sich in der geschichtlichen Verwirklichung stets als totalitär erwiesen - besteht die Gefahr eines leeren, sich avantgardistisch gebenden Aktionismus, der nur den eigenen Substanzverlust zu verschleiern sucht. Zeitgenössische Kunst scheint denn auch oft eher Negation als Position zum Ausdruck zu bringen, wobei das Ergebnis einer Auflösung jeden Inhaltes letztlich wieder nur reine, bedeutungslose Affirmation sein kann. Wohin führt also das Experiment? Diese Frage stellt sich jenen Künstlern und Denkern, die gemeinsam in das Zeitalter des Experimentierens aufgebrochen sind.

Martin Götze, Die Kunst des Unbestimmten, 1993.

http://www.sicetnon.cogito.de/artikel/kunst/lyt.htm  

 

 

         
 
               
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